Als Kabarettist hat sich Franz Hohler selber pensioniert, als Schriftsteller ist er lebendiger denn je. Blickt man mit dem 72-Jährigen zurück bis zu seinen rebellischen Anfängen, kommt man um die Politik nicht herum.
Sie wohnen in einer wunderschönen Villa, Herr Hohler. Aber ausgerechnet in Zürich-Oerlikon. Warum wohnen Sie hier?
Franz Hohler: Wir haben in der Schweiz schon längst keine Niederlassungsfreiheit mehr. Man muss sich dort niederlassen, wo man etwas findet. Als wir vor über dreissig Jahren in Uetikon am See die Wohnung verlassen mussten, hatten wir etwa zwei Jahre nach etwas Passendem gesucht und schliesslich hier dieses Haus gefunden.
Sie sind ein Naturmensch, wie man aufgrund Ihres Erzählbandes «Spaziergänge» unschwer erkennen kann. Da würde man Sie nicht in Oerlikon erwarten.
Wir sind sehr gerne in Oerlikon. Mir gefällt die Durchmischung. Je nachdem, wie man es anschaut, ist es ein Dorf oder eine Stadt. Viele Wohnansässige sagen: Ich gehe noch schnell ins Dorf.
In einem Dorf grüssen sich die Leute auf der Strasse.
Mich grüssen viele Leute auf der Strasse...
...weil Sie Franz Hohler sind. Auch in den Berner Lauben würde man Sie grüssen.
Die haben auch etwas Dörfliches.
Reden wir über Politik: Entgegen früheren Verlautbarungen wollen die Japaner gewisse Meiler wieder hochfahren. Sie sind ein AKW-Gegner der ersten Stunde. Hat Sie der Entscheid ernüchtert?
Es ist typisch, dass eine Regierung unter dem aktuellen Eindruck etwas beschliesst, um nach ein paar Jahren den Beschluss wieder umzukehren. Man muss nicht bis nach Japan gehen. Man kann auch die Energiewende in der Schweiz nennen. Das AKW Beznau, das älteste AKW der Welt, soll bis 2031 in Betrieb bleiben. Das ist keine Energiewende. Das ist ein Witz. AKW produzieren jeden Tag Abfälle, die Hunderttausende von Jahren von der Biosphäre ferngehalten werden müssen.
Die Grünen Deutschlands fordern, dass das AKW Beznau vom Netz genommen wird.
Es würde mich nicht verwundern, wenn das AKW erst auf Druck aus dem Ausland vom Netz genommen wird.
Bei der Initiative gegen Masseneinwanderung stimmten Sie Nein, stimmts?
Ja klar...
...weil sie von der SVP stammt. Nein, weil ich sie inhaltlich als falsch erachte.
Die Wirtschaft bekämpfte das Begehren, weil sie Wachstum um jeden Preis anstrebt. Wie können Sie das als Wachstumskritiker unterstützen?
Wachstumskritiker, bin ich das?
Sie haben wiederholt gesagt, die 1972 publizierte Studie «Die Grenzen des Wachstums» habe Sie beeindruckt und ein Stück weit geprägt.
Das wirtschaftliche Wachstum um jeden Preis schafft Probleme. Selbstverständlich schafft auch die Zuwanderung Probleme. Aber der Isolationismus gefällt mir nicht an der Initiative. Der Abschottungsgedanke. Die Überzeugung, dass wir für uns leben und für uns sorgen können, ohne auf das Umfeld Rücksicht nehmen zu müssen. Ich halte die Initiative nicht für umsetzbar.
In der Schweiz wird pro Sekunde ein Quadratmeter Boden zubetoniert. Stört es Sie nicht, wenn immer mehr Kulturland für neue Siedlungen geopfert wird?
Doch, natürlich, solange wir am Einfamilienhäuschen als Glücksmodell festhalten.
Derzeit läuft die Unterschriftensammlung für ein neues Votum zur Masseneinwanderung. Diese Initiative unterschreibe ich nicht. Das Abstimmungsergebnis haben wir zu akzeptieren. Jetzt müssen wir eine Lösung finden. Ich wäre auch sauer, wenn wir mit einer Mehrheit von 20'000 Stimmen ein Moratorium für AKW beschliessen würden, um nachher aus irgendwelchen Gründen nochmals darüber abzustimmen.
Was ist Ihre Antwort auf das Flüchtlingsproblem?
Ich zweifle, ob es Antworten geben kann. Wir stehen möglicherweise erst am Anfang einer neuen Bewegung. Europa muss sich zuerst daran gewöhnen. Tausende kommen aus armen oder kriegsgeplagten Ländern. Sie versuchen alles, um irgendwie in Europa unterzukommen. Europa wird nicht darum herumkommen, für diese Flüchtlinge mehr Platz zu schaffen. Dass Gemeinden wie Muri AG oder Arlesheim freiwillig Asylunterkünfte anbieten, ist ein gutes Signal.
Es gibt zwei extreme Positionen: Entweder nimmt Europa alle Flüchtlinge auf und versucht, ie zu integrieren. Oder man trifft ernsthafte Vorkehrungen, damit der Flüchtlingsstrom abreisst. Wie soll der Flüchtlingsstrom gestoppt werden?
Das ginge nur dann, wenn man in den Ländern mit Armut und Krieg Verhältnisse schafft, die den Leuten die Motivation nehmen, ihre Heimat zu verlassen. Entwicklungsorganisationen und NGOs versuchen das seit Jahrzehnten. Helvetas wurde vor sechzig Jahren gegründet. Wenn Sie schauen, wie viele Hilfswerke sich in den Ländern der Dritten Welt engagieren und was sie in all den Jahren erreicht haben, so bleibt nicht viel Raum für Optimismus.
Sie hatten immer pointierte Meinungen: Anfang der 80er-Jahre verabschiedeten Sie sich von der 15-minütigen Fernsehsendung «Denkpause», weil man Ihr Dienstverweigerungslied zensurierte. Das war mutig.
Warum finden Sie das mutig?
Weil freischaffende Künstler auf eine Plattform beim Fernsehen nicht gerne verzichten.
Es war nicht meine einzige Plattform. Ich hatte genügend Bühnenauftritte, und so lukrativ war die «Denkpause» auch wieder nicht.
Hatten Sie schon immer eine so grosse Selbstsicherheit?
Wenn man von seinen und mit seinen Ideen leben will, braucht es ein gewisses Selbstvertrauen.
Dafür spricht, dass Sie auf Ihrer Website nur negative Kritiken zitieren. Das wagt nicht jeder. Ich weiss nicht, ob ich das am Anfang meiner Karriere auch so gemacht hätte. Aber wenn meine Werke so schlecht wären, wie gewisse Kritiker teilweise schrieben, hätte ich als Künstler gar nicht überleben können.
Ich fragte im Freundeskreis: Was verbindest du mit Franz Hohler? Erraten Sie die Antworten?
Der eine oder andere wird wohl gesagt haben: das «Totemügerli». Aber es kommt natürlich darauf an, welche Altersgruppe Sie gefragt haben.
30- bis 50-Jährige.
«Franz und René».
Bingo. Die legendäre TV-Kindersendung «Spielhaus» der 1970er- und 80er-Jahre scheint keinem dieser Altersgruppe entgangen zu sein.
Ich treffe immer wieder auf erwachsene Menschen, die mir sagen: «Jetzt muss ich Ihnen doch noch sagen: ‹Franz und René›, das war unvergesslich.» Es rührt mich stets von neuem, wie diese Sendungen, die ich zusammen mit René Quellet für Kinder gemacht habe, bei mittlerweile erwachsenen Menschen derart haften geblieben sind.
Ein Kollege sagte mir: Den Roman «Es klopft» müsse ich unbedingt lesen. Überrascht?
Ich sehe, Sie haben ein interessantes und lebendiges Umfeld. Nein, das überrascht mich nicht. Ich empfehle das auch zum Lesen (schmunzelt).
Ich besuchte kürzlich in Zürich-Höngg eine Ihrer Lesungen. Sie trugen kaum gesellschaftskritische Texte vor.
Ist das so? Habe ich nicht den «Dienstverweigerer» gesungen? Und das Gedicht «8 Millionen, wo sollen die wohnen» gelesen?
Stimmt. Aber wer Sie von früher kennt, erwartete mehr von dieser Sorte.
Mit dem politischen Kabarett habe ich aufgehört. Ich mache Lesungen, lese poetische Texte vor. Sozialkritische Texte sind nicht so langlebig. Sie beziehen sich häufig auf Aktuelles.
Vor vielen Jahren hatte ich Sie in Bern in der «Rampe» gesehen. Sie blieben mir als zorniger Linker in Erinnerung, wie Sie Cello spielend Missstände geisselten. Sind Sie altersmild geworden?
Ein zorniger Mann bin ich sicher nicht mehr. Aber ich bin auch nicht einer, der nur noch Blümchen zählt. Ich halte die Augen offen und melde mich auch immer wieder, wenn ich der Meinung bin, dass etwas gesagt werden muss. Eine andere Frage ist, ob das überhaupt wahrgenommen wird.
Neben Lukas Bärfuss und Ihnen kommt mir kein anderer Schriftsteller in den Sinn, der sich politisch einbringt. Zu Zeiten von Frisch und Dürrenmatt war das noch anders.
Ich sehe das Problem eher in der Wahrnehmung. Es gibt zum Beispiel eine Plattform «Kunst und Politik», wo sich Künstler zum Zeitgeschehen äussern. Ich habe das Gefühl, dass das Gesagte gar nicht wahrgenommen wird, dass sich die Medien kaum dafür interessieren.
Haben Sie ein Beispiel?
Verschiedene Schweizer Künstler machten einen Aufruf zu Griechenland. Die Schweiz solle mit griechischen Millionären gleich verfahren wie mit den amerikanischen und die Bankdaten freigeben. Auf diesen Aufruf gab es praktisch kein Echo.
Liegt es an den Medien, oder könnte es sein, dass die Stellungnahmen der Künstler etwas weltfremd sind?
Es gehört zur Kultur, dass sie sich nicht in erster Linie um das Machbare kümmert, sondern das Denkbare.
Im Unterschied zu früher ist das politische Kabarett, wie Sie es betrieben, kaum mehr en vogue. Es gibt nur noch Comedy.
Ich muss zugegeben, dass ich die Szene nicht mehr so verfolge, seit ich selber nicht mehr als Kabarettist tätig bin. Doch Lorenz Keiser macht durchaus Programme, in welchen er aktuelle, gesellschaftskritische Fragen aufgreift. Das Gleiche gilt für Joachim Rittmeyer. Er spielt zwar nicht auf den Mann, behandelt aber Erscheinungen unserer Zeit auf eine satirische Art. Jemand wie Andreas Thiel macht auch politisches Kabarett. Ob man mit ihm einverstanden ist, ist eine andere Frage. Aber das ist bei jedem politischen Kabarett der Fall.
Was lesen Sie gerade?
«Die Leute von Seldwyla» von Gottfried Keller. Ich werde am 25. Oktober am «Herbstbott» der Gottfried-Keller-Gesellschaft den Festvortrag halten.
Und sonst?
Ich liebe die Klassiker des 20.Jahrhunderts. Allen voran Franz Kafka, auch Robert Walser oder Marie-Luise Kaschnitz.
Sie haben eine eigene Sekretärin. Was macht sie so den ganzen Tag? (lacht)
Sie nimmt Anfragen entgegen und beantwortet sie. Sie unterstützt die Veranstalter bei der Durchführung von Lesungen. Sie erledigt Anfragen für Abdrucke meiner Texte. Sie bezahlt die Rechnungen, macht die Buchhaltung und bereitet die Steuererklärung vor. Sie ist meine Telefonistin, meine Archivarin, mein Reisebüro und meine Computersupporterin. All das in einem 40-Prozent-Pensum.
Und was machen eigentlich Sie den ganzen Tag über? Haben Sie einen strukturierten Tagesablauf?
Der Vormittag gehört normalerweise dem Schreiben, der Nachmittag eher dem Organisatorischen.
Sie stehen als 72-Jähriger fast wöchentlich auf der Bühne. Bei Politikern würde man von Sesselklebern reden. Was treibt Sie an?
Mir gefallen Auftritte vor dem Publikum. Man bekommt eins zu eins mit, wie das rüberkommt, was man geschrieben hat. Und zum Sesselkleber: Ich lese immer im Stehen.
Praktisch jeden Freitag kann man im «Nachtexpress» Ihr ‹Totemügerli› hören. Wie viel bekommen Sie dafür?
Der Tarif von Pro Litteris wurde kürzlich angepasst. Etwa 140 Franken.
Pro Mal? Sie könnten allein vom Schöppelimunggi und vom Houderebäseler leben.
Ich habe immer gesagt: Das «Totemügerli» ist meine Altersvorsorge.
Von all Ihren Werken dürfte demnach das «Totemügerli» das lukrativste sein.
Ich habe die Erträge des «Totemügerli» nicht aufgeschlüsselt, aber es rührt mich immer wieder, wie die beiden Süffel Schöppelimunggi und Houderebäseler für mich krampfen.
So fliesst immer Geld auf Ihr Konto, ohne dass Sie dafür etwas tun müssen. Das finde ich gäbig.
Das ist der Charme des Urheberrechts. Zu Goethes oder zu Mozarts Zeiten war das noch anders. Die Autoren des 18. oder des 19.Jahrhunderts konnten ihr Werk nur ein einziges Mal verkaufen. Deshalb steckten viele jener Künstler, auch die erfolgreichen, ständig in finanziellen Schwierigkeiten.
Was verlangen Sie für eine Lesung?
Ich habe keinen festen Tarif. Das hängt von der Anzahl der Besucher und der Höhe des Eintritts ab. Manchmal verlange ich einen prozentualen Anteil der Eintritte oder eine Garantie von mindestens 800 Franken. Das ist ein normales Autorenhonorar für eine Lesung.
Sie hatten fast überall auf der Welt Auftritte. Sogar in Ecuador oder in Burma. Was und in welcher Sprache reden Sie dort mit den Leuten?
Das sind meistens deutschsprachige Auftritte. In all diesen Ländern gibt es Universitäten, an denen Deutsch gelehrt wird. Häufig werde ich vom Goethe-Institut dieser Länder eingeladen. Es hat die Aufgabe, die deutsche Sprache zu fördern. Das ist eine riesige Werbeagentur für die deutsche Sprache. Es gibt erstaunlich viele Leute auf der Welt, die Deutsch lernen wollen.
Wenn Sie Ihr umfangreiches und vielschichtiges Werk überblicken, worauf sind Sie dann besonders stolz?
Das ist, wie wenn Sie einen Vater fragen, welches seiner Kinder er am liebsten hat. Er wird sagen: Ich habe alle gleich gern, auch wenn er eines lieber hat. Mein Herz schlägt immer gerade für das Aktuellste.
«Ein Feuer im Garten» kommt im Oktober heraus. Was können wir erwarten?
Ich habe über die Jahre hinaus immer wieder Bücher geschrieben, in denen ich Eindrücke aus dem Leben wiedergebe, Begegnungen, die bei mir hängen geblieben sind, wo ich merkte: Das ist eigentlich eine Geschichte. Im Buch werden Sie auch Texte finden, in welchen die Wirklichkeit leicht verschoben wird, wo man ein Fenster aufmacht und in eine andere Wirklichkeit schaut.
Erschienen in der Berner Zeitung am 17. August 2015
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