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Die Presse: Schweizer sind Keine Masochisten, aber Egoisten

Gastkommentar. Was Österreicher und Eidgenossen unterscheidet: demokratische Rechte.


Vor gut zwei Jahren haben die Schweizer Stimmbürger die Volksinitiative «Sechs Wochen Ferien für alle» mit 66 Prozent Nein-Stimmen dankend abgelehnt. Und von einem gesetzlichen Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde, was einem Monatslohn von 4000 Franken entspricht, wollen sie erst recht nichts wissen: Mit einem Nein-Anteil von 76 Prozent erteilten sie am Sonntag den Gewerkschaften eine Abfuhr.


Sind wir Schweizer ein Volk von Masochisten? Kaum. Vielleicht eines von Egoisten. In der Schweiz haben viele bereits heute sechs Wochen Ferien. Überspitzt gesagt: Was habe ich davon, wenn auch alle anderen sechs Wochen Ferien haben? Und dann dieser unsägliche Mindestlohn. Die meisten verdienen schon heute weit über 4000 Franken. Was bewirkt ein höheres Lohnniveau? Vor allem höhere Preise.


Man braucht keine vertiefte Kenntnisse in Betriebswirtschaft zu besitzen, um zu begreifen, dass sich mehr freie bezahlte Tage und höhere Löhne in höheren Preisen niederschlagen werden. Die Preise in der Schweiz sind weiß Gott schon hoch genug. Unter höheren Preise leiden alle; von Mindestlöhnen und mehr Ferien könnte nur eine Minderheit profitieren. Das ist egoistisch, nicht masochistisch.


Wer hätte profitiert?

Dieses Abstimmungsverhalten der Eidgenossen hat System: Wenn es darum geht, die Altersvorsorge zu sichern, stimmt eine große Mehrheit dafür. Wenn es aber darum geht, die Invalidenversicherung zu sanieren, kann man froh sein, eine knappe Mehrheit zu erlangen. Von der Altersvorsorge profitieren alle; von der Invalidenversicherung nicht. Und wenn wir schon bei den Profiteuren sind: Wer profitiert in erster Linie von einem überhöhten Mindestlohn?


Man darf es nicht laut sagen, aber es sind mehrheitlich ausländische Arbeitskräfte. Jene also, von denen wir in Zukunft nicht mehr allzu viel ins Land lassen möchten, wie das knappe Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar zeigte. Der Ausländeranteil beträgt mittlerweile 24 Prozent. Gemäß einer vor der Abstimmung durchgeführten Umfrage befürch- teten 54 Prozent der Befragten einen Zuwachs ausländischer Arbeitskräfte, sollte der Mindestlohn für Ungelernte flächendeckend auf 4000 Franken angehoben werden.


Was uns die Väter lehrten

Und überhaupt: Warum brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn für Ungelernte? Schon unsere Väter haben uns eingetrichtert: «Du musst eine Berufslehre absolvieren oder eine höhere Schule besuchen, sonst kommst Du nicht durchs Leben.»


Spinnen die Schweizer? titelte «Die Presse» in der Montagsausgabe. Schön wäre es. Wir wären gerne anders als die anderen. Vielleicht sind wir gerade deshalb nicht in der EU. Oder sind wir nicht in der EU, weil wir Egoisten sind? Der englische Philosoph Thomas Hobbes sagte: homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Wobei er sich wohl nicht nur auf die Schweizer bezog.


Deshalb glaube ich, liebe Österreicher, dass Ihr bei vergleichbaren wirtschaftlichen Verhältnissen ähnlich abstimmen würdet wie wir. Der entscheidende Unterschied liegt in unseren demokratischen Rechten. Unglaublich, über was wir alles abstimmen dürfen, sofern genügend Unterschriften zustande kommen. Sogar über die Flugzeugbeschaffung der Armee konnten wir am Sonntag mitreden.


Diese demokratischen Rechte und nicht ein typisch schweizerischer Hang zum Egoismus sind es, was Österreich und die Schweiz unterscheidet. Und natürlich, dass Ihr die besseren Skifahrer habt. Aber lassen wir dieses betrübliche Kapitel... Schade, dass wir nicht auch darüber abstimmen können.


Als Gastkommentar erschienen in «Die Presse» am 22. Mai 2014

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