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Schwindelattacken an der «Art»

Dieser Artikel ist nicht von mir, aber auch ein bisschen über mich. BZ-Kulturredaktorin Helen Lagger über die 46. Art Basel.


Warum nicht mit den Grössten der grossen Kunst beginnen, sagen wir uns und entern die Halle der Art Unlimited. In diesem Sektor sind Kunstwerke von einer Dimension zu sehen, die in einem herkömmlichen Messestand keinen Platz hätten. Ich besuche die Art Basel mit Claude Chatelain. Er ist Wirtschaftsredaktor bei dieser Zeitung und war noch nie an der Art.


«Was ist die Message?», fragt der Geldexperte vor einer grossen Installation aus zerbrochenem Glas stehend. «L’art pour l’art» ist seine Sache nicht. Dafür findet der Kollege bald an einer explizit politischen Arbeit Vergnügen, an der ich glatt vorbeigegangen wäre. Der mexikanische Künstler Pedro Reyes hat in «Disarm, Mechanized II» (2013) aus Waffen Musikinstrumente gebaut, die exotische Klänge von sich geben. Die Message: «Make music, not war!»


Wir lauschen und hasten weiter. Es gibt noch viel zu sehen, wird die von Starkurator Gianni Jetzer konzipierte Schau doch mit jedem Jahr umfangreicher. Der Grössenwahn vergeht uns vor Gregor Schneiders «u r 19, Liebeslaube». Der deutsche Künstler lässt die Besucher in einen klaustrophobisch wirkenden weissen Raum kriechen, in dem eine Badewanne und ein Bett stehen. Wir wagen uns nicht hinein. Meine Begleitung interessiert sich sowieso mehr dafür, wie viel die Aufsichtspersonen, die in Schneiders Isolationszelle lotsen, verdienen. Antwort kriegt er keine.


Begeistert sind wir beide von Julius von Bismarcks «Egocentric system». Der deutsche Künstler, der mit seinem wilden schwarzen Bart wie ein Outlaw aus den Siebzigern aussieht, liegt in einer Schüssel, die sich um ihre eigene Achse dreht. Wie kann er dabei auch noch schlafen, ohne dass ihm schwindelig wird? Es wirkt, als würde sein «Gefährt» bald abheben. Das ist allerdings eine Illusion, wie der Saaltext uns wissen lässt. Die Geschwindigkeit wird vom Betrachter schneller wahrgenommen, als sie tatsächlich ist. Bismarcks erklärtes Ziel: Sich selbst ins Zentrum stellen, während Ausstellungshalle und die Welt darüber hinaus an den Rand rücken. Ohne sich beirren zu lassen, geht er alltäglichen Dingen nach. Und ich dachte, es gehe um eine Existenzkrise, um jemanden, der in einem Loop gefangen ist. S


Sollen wir uns schon jetzt eine Pause gönnen? Nichts da. Wir verlassen die Unlimited und müssen erneut unsere Taschen für die Security öffnen. Man lässt uns passieren. Wir haben schliesslich weder einen Giacometti noch einen Picasso eingesteckt. Werke von beiden Künstlern sind am Messestand der legendären amerikanischen Gagosian Gallery zu erstehen. Mittlerweile bespielt die in Los Angeles von Larry Gagosian gegründete und in New York bekannt gewordene Galerie vierzehn verschiedene Ausstellungsräume in acht Städten der Welt. Von Jeff Koons lacht uns hier eine Katze an. Sie steckt in einer an einer Wäscheleine hängenden Socke.


Während Koons uns mit seinem Kitsch angeblich einfach nur glücklich machen will, dekonstruiert Paul McCarthy mit seinen auf der ersten Blick niedlichen Skulpturen den American Dream. Die Skulptur «White Snow, Bambi» (2013) aus weissem Marmor steht im Messestand bei der Zürcher Galerie Hauser & Wirth. Die von McCarthy geschaffene Figur ist eine groteske Kreuzung aus Bambi und Schneewittchen, als wäre eine Genmanipulation aus dem Ruder gelaufen.


Tierisch gehts weiter: Wo tote Fische in Formaldehyd schwimmen, muss der Brite Damien Hirst am Werk gewesen sein. «Something and Nothing» (2004) lautet der Titel der riesigen Installation aus Stahl, Glas und für immer konservierten Meerestieren. Die sublime Kraft seines Tigerhais von 1991, einem Werk, das Hirst über Nacht berühmt machte, hat dieses Arrangement beim Messestand der Londoner Galerie White Cube nicht. Wir zücken das Handy und schiessen ein Selfie: Schliesslich geht es bei Hirst um Vergänglichkeit. Und wie könnte man dem Unausweichlichen besser trotzen als mit einem Foto?


Sind Koons und Hirst Klassiker oder total passé? Wir suchen die Antwort bei den Newcomern im Sektor Statements. Die Künstler aus aller Welt sind anwesend, und man kommt beispielsweise mit Caline Aoun aus Beirut leicht ins Gespräch. «Ich will noch mehr sehen, ich fahre nochmals hin», schwärmt meine Begleitung am Ende des Rundgangs. Stunden später ruft Chatelain an: «Ich bin gerade in der Unlimited. Der Bismarck sitzt immer noch in seiner Schüssel und dreht sich um die eigene Achse.»



Erschienen in der Berner Zeitung am 18. Juni 2015

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